2. Akt - Im Jadereich

Raya hatte Andrel im Tempel von ihrer Sorge berichtet, dass sie seitdem sie im Wind der Zeit verloren gegangen war, immer irgendwie abwesend sei und sich auch nicht sicher sei, ob sie ihre Fähigkeiten die Stimmung der Menschen um sich herum zu lesen verloren hatte. Er hatte ihr versprochen, darüber nachzudenken und zusammen eine Lösung für die seltsame Veränderung von Raya zu finden. Sie hatte versprochen, sich wieder mehr am Gruppengeschehen zu beteiligen. Ihre Fragen über seine Heilungskünste hatte sie aufgeschoben, da sich Andrel alsbald an seine Göttin gewendet hatte und so bedächtigt wirkte.
Auf dem Weg in das Gasthaus, war Raya schon so, als wäre ihr ein Stein vom Herzen gefallen, einfach weil sie sich ihm anvertraut hatte.
Sie hatte einen Riesenhunger und schlang das Gulasch geradezu in sich hinein. Dazu prostete sie der Runde mit ihrem Wasser zu.

So verging der Abend gemütlich, bei Speis, Trankund Narimbrand. Das Getränk zeigte seine Wirkung, die Stimmung wurde ausgelassen, und Lylla sah das erste blaue Leuchten, jedoch stand sie im Trinken Kaebjorg in nichts nach. Irgendwann endete aber auch dieser Abend. Die Zimmer waren bald geordert und dort schlieft ihr in ruhiger Glückseligkeit.

10. Ilari'Orosas 1404, Früh

Am Morgen nahmt ihr noch ein kräftiges Frühstück zu euch und bald ward ihr bereit, eure Reise fortzusetzen.

Kaebjorg hatte gut geschlafen und wachte erholt auf. Den Alkoholdunst vom Vorabend beseitigte er, indem er sich mit etwas Wasser aus der Waschschüssel bespritzte. Doch, es war ein netter Abend gewesen. Und, bei allen Schiffen des Sternensees, diese Lylla hatte ganz schön was auf dem Kasten! Bei ihrer ersten Begegnung war sie glatt in Ohnmacht gefallen, doch gestern hatte sie den Narimbrand in sich hineingeschüttet wie Andrel das Wasser. Und ihre Trinklieder waren auch nicht von schlechten Eltern gewesen. Dass Ellyll'Dalorim solche Worte kannten...?

Nach dem Frühstück packten alle ihr Zeug zusammen und die Gruppe versammelte sich im Schankraum.
"Gibste mal die Karte, Raya?" Kaebjorg rollte das Papier auf und rief sich den Namen ihres Zeilortes in Erinnerung: Nu, die Hauptstadt dieses Landes, die er ständig mit Xu verwechselte.
"Wie weit isses denn nach Nu? Wie kommen wir da hin?", fragte er in die Runde.

Raya holte die Karte hervor. "Schau mal, wir sind hier unten angekommen. Wir folgen einfach diesem Steppenweg bis zur Brücke und auf der anderen Seite sehen wir schon die Stadtmauern. Aber das ist ja blöd, wir haben gar nicht nach dem wegzoll gefragt. Hoffentlich haben wir genug für uns alle zusammen."
Raya drehte sich um. "Lylla, weißt du, wieviel uns das kosten wird. Quendi, hast du heute morgen unsere Kasse gezählt?"

"Ich habe, seit wir an Bord der Windschreiter gegangen sind, auf Eure Kosten gelebt", mischte sich Andrel ein. "So mein Geld reicht, wird es mir eine Ehre sein, den Obolus für den Zoll zu übernehmen."

"Schön, schön." Kaebjorg klopfte dem Ellyll anerkennend auf die Schulter - oder zumindest auf den Oberarm, höher kam er nicht. "Wenn's bis zum Meer so weit ist, muss die Stadt aber auch 'n ganzes Stück weg liegen, oder? Auf der Karte erkennt man's schlecht - was hat der Grünling dazu in seinem Buch stehen?"
Ihm ging ein Licht auf: Tagebücher waren doch zu etwas nütze!

"Er hat nicht viel über diese Etappe gesagt. Jedenfalls haben er und seine Gefährten günstig Pferde bekommen. Wer von uns übernimmt das Feilschen?"

Andrel hatte das eigenartige Gefühl, als sähen ihn alle an. "Also gut", sagte er. "Ich kann es versuchen. Doch im handeln bin ich unerfahren; erwartet also keine Wunder!" Er wandte sich an Raya: "Steht in dem Tagebuch etwas darüber, woher sie die Pferde hatten?"

"Ich bin auch dafür, dass wir Pferde nehmen. Sonst brauchen wir ja drei mal so lang, wie dieser Yarek!", sagte Quendi und folgte Raya, die die Richtung angab.

Die Gefährten näherten sich dem Haus, welches Raya beschrieben hatte. Schon als sie näher kamen, wurde der Duft von Tier und Stroh immer intensiver. Vom Haupthaus zweigte direkt ein großer Stall ab, aus dem geschäftige Rufe kamen.
"Vielleicht sollten wir direkt im Stall nachsehen. Es ist früh am Morgen und die Leute hier sind sicher schon mitten in ihrem Tagwerk.", meinte sie und ging direkt auf das große Stalltor zu, das einen Spalt aufstand.
Als sie hineinluckte, sah sie eine Reihe von Boxen, aus der ihr neugierige Pferdeköpfe entgegen sahen. Quendi waren so große Tiere einfach nicht geheuer und sie machte einen Schritt zurück.
Andrel wäre dabei fast in sie hineingelaufen, da er ihr direkt gefolgt war.
"Ehm", sagte sie. "Geh du doch mal vor, Andrel. Deine Art wirkt da drin sicher beruhigend."

Der würzige Geruch der Freiheit drang aus dem Pferdestall an Lyllas Nase. Sie ging hinter den anderen, um sie nicht merken zu lassen, wie sehr ihr der Narimbrand zugesetzt hatte. Sobald sie konnte, schloss sie die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, war ihre Sicht zunächst bläulich verfärbt, das legte sich aber wieder. Der Boden unter ihr schwankte, aber ihr war dieser Zustand wohl vertraut. Andrel ging nun der Gruppe voran zaghaft einem harten Feilschgeschäft entgegen. Lylla beschloss, ihm zu Hilfe zu kommen, sollte er sich übervorteilen lassen.

Ihr erreicht Xian's Pferde- und Maultierstation, die am nord-westlichen Ende des Dorfes liegt. In den Ställen herrscht schon rege Betriebsamkeit. Der Geruch von Maultieren mischt sich mit dem von Pferden. Ein Mensch, allen Anschein nach ein Einheimischer, kommt auf euch zu und begrüßt euch auf's Freundlichste.

"Willkommen in Xian's Pferde- und Maultierstation. Ich bin Liam Xian, der Besitzer dieses Unternehmens. Was verschlägt euch in die Gegend?" Ein breites, freundliches Lächeln erscheint in dem Gesicht des Mannes. "Was kann ich für euch tun?"

"Dorana sei mit Euch, guter Mann", antwortete Andrel und deutete eine Verbeugung an. "Wir sind auf der Reise nach Nu und haben erfahren, dass wir bei Euch die stärksten und robustesten Pferde finden können." Er wies auf seine Gefährten. "Wir möchten einige davon mieten. Ist das möglich?"

"Zunächst führt unser Weg nach Nu", wiederholte Andrel, "aber es ist ungewiss, ob er dort endet. Wir besitzen keine Pferde, aber Eure Idee, sie zu kaufen, ist hervorragend." Er lächelte und warf dann einen kurzen Blick auf seine Gefährten. Alle reisten mit leichtem Gepäck; ein Packpferd würde wohl nicht vonnöten sein. "Wie hoch ist der Preis für fünf Eurer Pferde?"

"Aus Danmar'Caeolis sind wir zusammen aufgebrochen und haben den Sternensee auf einem Luftschiff überquert. Die Seilbahn Gipfelstürmers brachte uns ins Tal", gab Andrel bereitwillig Auskunft. Obwohl er ahnte, worauf die Fragen Xians abzielten, kam es für ihn nicht infrage, die Unwahrheit zu sagen. Inständig hoffte er, dass es sich nicht auf den Preis auswirken würde, wenn sein Gegenüber gleich fragte, warum sie auf dem Ju'Manal keine Maultiere gemietet hätten.

Langsam nickte Andrel. Das verschaffte ihm Zeit, über sein weiteres Vorgehen nachzudenken. Durfte er auf Mitleid hoffen? Wohl kaum, Xian war ein Geschäftsmann, der sicherlich nicht glücklich darüber war, dass sie die Dienste seiner Mulis nicht bereits in Anspruch genommen hatten. Vermutlich würde Bitten erfolglos bleiben. Also atmete er tief durch, straffte seine Gestalt und sagte: "Ich bin bereit, Euch 350 Falken zu zahlen."

"Die Wahrheit", schlug Andrel vor. "Und wahrscheinlich lobt sie dann Euren Geschäftssinn, der es möglich gemacht hat, gleich fünf Pferde auf einmal zu verkaufen und zufriedene Kunden zu gewinnen." Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: "360 Falken, dann könnt Ihr mit Eurer Familie heute Abend köstlich speisen."

"Na gut, so soll es sein." Der Mann reichte Andrel die Hand zum Handschlag.

Andrel ergriff die ihm dargebotene Hand und schüttelte sie. "Habt Dank für Euer Entgegenkommen! Möge Dorana ihren Segen reichlich über Euch und Eurer Familie ausgießen!"