von marismeno Fr Jul 20, 2018 1:56 pm
Das eindringliche Gefühl, dass etwas sehr Kraftvolles anwesend sei, ließ Wanja aus seinem leichten Schlaf erwachen. Angespannt aber reglos lauschte er in die Dunkelheit hinein. Nichts außer den gewöhnlichen Nachtgeräuschen der Halbwüste. Kleine Tiere. Wind. Das Glucksen des kleinen Gewässers. Der Atem des Pferdes und der des Kindes.
Das Kind. Er hob den Kopf und sah sich nach ihm um. Die Kleine, Sira, schien tief zu schlafen, völlig in die Decke eingehüllt. Dennoch schien die kraftvolle Ausstrahlung aus ihrer Richtung zu kommen. Vielleicht tat sie es unbewusst, im Schlaf. Vielleicht besaß sie eine natürliche, angeborene Fähigkeit, von der sie nicht einmal etwas ahnte, und die sich im Schlaf manifestierte. In jedem Fall spürte Wanja, dass von dem Mädchen eine sehr starke Magie ausging.
Er schauderte, zog sein Schwert, das er stets in Reichweite behielt, noch enger an sich und legte sich so zurecht, dass er Sira im Blick behalten konnte. Die Kleine war ihm ein Rätsel, das er ohne die Möglichkeit, mir ihr zu sprechen, auch nicht würde lösen können. Aus welchem Volk sie wohl stammte? Ihre dunkle Haut und das krause, zu einem Knoten geschlungene Haar erinnerten ihn an keine anderen Menschen, denen er jemals begegnet war. Wie hatte es sie hierher verschlagen, in eine Stadt, dessen Bewohner sie offenbar ebenfalls nicht verstehen konnte? Gewiss hatte sie doch jemand hierher mitgenommen, denn ein kleines Kind lief nicht allein so weit aus seiner Heimat fort. Ihre Familie? Freunde? Fremde Mitreisende? Aber warum war sie dann allein am Stadttor gewesen? Hatte sie ihre Angehörigen aus den Augen verloren? Hatte man sich ihrer entledigt? Wen konnte er bitten, zwischen ihnen zu übersetzen?
Der Himmel über den dünnen Zweigen der Bäume war noch dunkel. Trotzdem glaubte Wanja, dass bald die kurze Dämmerung anbrechen würde, mit der in diesem Teil der Welt stets ein neuer Tag begann. Er konnte ohnehin nicht wieder einschlafen, und das mochte in Anwesenheit einer unbekannten und so beeindruckenden magischen Präsenz auch nicht ratsam sein. Diese Präsenz war nicht feindselig, war gar nicht aktiv auf irgendetwas Bestimmtes gerichtet. Sie war einfach nur da.
Er würde Sira bei Tagesanbruch, sobald die Tore geöffnet wurden, wieder mit in die Stadt hinein nehmen. Gewiss würden die Wachen ihm das nicht verwehren, wenn er behauptete, sie gehöre zu ihm. Womöglich machte er sich ja einfach zu viele Gedanken und sie würde auf dem kürzesten Wege in die Unterkunft ihrer Angehörigen zurück finden.
Die Finger seiner rechten Hand umschlossen das Heft seines Schwertes. Dies war vertraut, beinahe wie ein Teil seines Armes, eine Gewissheit, die nie in Frage stand. Wenigstens dieses Eine, in all den Jahren, die er inzwischen fern seiner eigenen Familie und Heimat war. Die Waffe war das einzige, was wirklich ihm gehörte, das einzige außer der Kleidung an seinem Leib, dem Pferd und dessen Sattelzeug, was er damals mitgenommen hatte.
Zuletzt von marismeno am Mi Aug 01, 2018 3:29 pm bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet